Phyllotaxis
Einleitung
Mit "Phyllotaxis" bezeichnet man die Anordnung der Blüten und Blätter bei Pflanzen. Diese ist in der Pflanzenwelt vielfältig zu beobachten. Bei wechselständigen Blättern bilden sich oft Spiralmuster:
(Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Phyllotaxis)
Schaut man genau hin, ergeben sich oft mehrere Spiralmuster. Bei diesem Romanesco sieht man ein Muster mit 8 Spiralen und ein Muster mit 13 Spiralen. Die Spiralen der beiden Muster sind entgegengesetzt gedreht:
Ähnliches gilt für diese Sonnenblume, hier kann man einerseits 34 Spiralen und andererseits 55 Spiralen in entgegengesetzter Richtung erkennen:
Und auch bei der Ananas: In der einen Richtung sind es 8 Spiralen und in der anderen Richtung sind es 13 Spiralen.
Von der Seite kann man sogar ein drittes Spiralmuster mit 21 Spiralen erkennen:
Das erstaunliche an der ganzen Sache ist die Tatsache, dass diese Zahlen, also die Anzahl zweier entgegengesetzter Spiralen zwei zwei aufeinanderfolgende Elemente der sogenannten Fibonacci-Folge sind: $$\{1,1,2,3,5,8,13,21,34,55,\ldots\}$$ Die Fibonacci-Folge wird dadurch bestimmt, dass jede weitere Zahl immer die Summe ihrer beiden Vorgänger ist: $$ \begin{eqnarray} 2 &=& 1+1 \nonumber \\ 3 &=& 1+2 \nonumber \\ 5 &=& 2+3 \nonumber \\ 8 &=& 3+5 \nonumber \\ \vdots &=& \vdots \nonumber \\ x_n &=& x_{n-2}+x_{n-1} \end{eqnarray}$$ Warum ergeben sich oft solche sehr speziellen Zusammenhänge und woher kennen die Pflanzen die Fibonacci-Zahlen? Dies soll hier etwas genauer untersucht werden.
Das Modell
Die Blattstellung bei Pflanzen unterliegt verschiedenen Mustern. So ist bei wechselständiger Beblätterung der Winkel zwischen zwei aufeinanderfolgenden Blättern meistens gleich (vgl. [Hop], Abschnitt 2.2.2).
(Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Phyllotaxis)
Neben einer Drehung kommt es meist auch zu einer vertikalen Bewegung bzw. bei Blüten, z.B. bei der Sonnenblume, zu einer Bewegung nach außen.
Diese zwei Charakteristiken sollen im folgenden Applet dargestellt werden:
- Der Winkel zwischen zwei aufeinanderfolgenden Blättern bzw. Blüten ist immer gleich. Dieser Winkel heißt Divergenzwinkel.
- Alle Blätter bzw. Blüten entfernen sich immer mehr vom Ursprung.
Von Strahlen und Spiralen
Zunächst wollen wir uns einmal anschauen, wie es eigentlich zu solchen Spiralmustern kommt: Welchen Einfluss hat der Divergenzwinkel bzw. der Kreisteil auf die Anzahl der sichtbaren Spiralen?
Experimente mit dem Kreisteil bzw. dem Divergenzwinkel
Zum Studium der Beziehung zwischen Blütenmustern und Divergenzwinkel betrachte man das folgende Applet. Dort kann man die Anzahl der Strahlen bzw. Spiralen in Abhängigkeit vom experimentell erfahren: Man gibt zunächst den Kreisteil \(\omega\) ein und zählt dann die dabei entstandenen Strahlen bzw. Spiralen.
Offenbar entstehen bei \(\omega=\frac{1}{3}\), also \(\alpha=\frac{1}{3}\cdot 360° = 120°\) genau 3 Strahlen. Wie sieht dass allgemein für einen Winkel der Form $$\alpha=\frac{p}{q}\cdot 360° \mbox{ bzw. } \omega=\frac{p}{q} \mbox{ mit } p,q\in \mathbb{N}$$ aus? Probiere es aus:
- Probiere Winkelanteile der Form \(\omega=\frac{1}{4},\omega=\frac{1}{8},\omega=\frac{1}{9},\ldots \). Was würdest Du erwarten?
- Probiere Winkelanteile der Form \(\omega=\frac{2}{4},\omega=\frac{6}{8},\omega=\frac{3}{9},\ldots \). Was würdest Du erwarten?
- Probiere Winkelanteile der Form \(\omega=\frac{3}{4},\omega=\frac{11}{8},\omega=\frac{5}{9},\ldots \). Was würdest Du erwarten?
- Probiere Winkelanteile der Form \(\omega=\frac{1}{10},\omega=\frac{1}{20},\omega=\frac{1}{30},\ldots \). Was würdest Du erwarten?
- Versuche eine allgemeine Aussage zu formulieren: Ist $$\alpha=\frac{p}{q}\cdot 360° \mbox{ bzw. } \omega=\frac{p}{q}$$ dann entstehen jeweils ..... .
Hinweis: Skaliere dabei auch so, dass einmal sehr wenige und einmal sehr viele Blüten bzw. Blätter sichtbar sind.
- Ist der Nenner q im gekürzten Kreisteil groß, dann lassen sich erst nach einer großen Anzahl von Blüten bzw. Blättern q Strahlen erkennen.
- Es lassen sich, z.B. beim Kreisteil 7/30 und 11/30 auch eine kleinere Anzahl x<30 von Spiralen (keine Strahlen!) erkennen.
- Ist der Kreisteil $$\omega=\frac{p}{q}$$ vollständig gekürzt, dann entstehen genau \(q\) Strahlen. Gegebenenfalls benötigt man eine höhere Anzahl von Blättern bzw. Blüten, um die Strahlen zu erkennen.
- Verändert man den Kreisteil um einen kleinen Wert, dann werden die Strahlen zu Spiralen.
- Bei größeren Nennern \(q\) lässt sich manchmal auch eine kleinere Anzahl \(x\) von Spiralen (nicht Strahlen!) erkennen.
Erklärungen für unsere Beobachtungen
Wir wollen nun versuchen, die Beobachtungen zu erklären bzw. zu begründen.Hinweis: Um die Strahlen erahnen zu können, sollten es mehr als \(3\cdot q\) Blätter sein.
- Es entstehen höchstens q Strahlen:
Wir betrachten ein beliebiges Blatt \(x\leq q\), z.B. das 7. Blatt (\(x=7\)). Ist der Winkelteil \(\omega=\frac{p}{q}\), dann ist das \((7+q)\)-te Blatt um den Winkel $$q\cdot\frac{p}{q}\cdot 360°=p\cdot 360°,$$ also einem Vielfachen von 360° gedreht, d.h. q Blätter nach dem 7. Blatt ist man wieder über dem 7. Blatt. Ebenso gilt dies nach der doppelten Anzahl \(2q\), der dreifachen Anzahl \(3q\). Und so entsteht z.B. nach \(3q\) Blättern mehr ein Strahl "über" dem 7. Blatt, der mindestens 1+3=4 Blätter lang ist. Da die Wahl des Ausgangsblattes beliebig war, gilt dies für alle Blätter \(1,2,\ldots,q\). - Bei einem vollständig gekürzten Kreisteil können es nicht weniger als q Strahlen sein:
Angenommen es wären weniger, z.B. \(r < q\) Stück. Dann wäre auch $$r\cdot\frac{p}{q}\cdot 360°=s\cdot 360°$$ ein Vielfaches von 360°, also $$s=r\cdot\frac{p}{q}$$ eine natürliche Zahl. Teilt man durch \(r\) ergibt sich $$\omega=\frac{p}{q}=\frac{s}{r}$$ Damit lässt sich \(\omega\) aber durch einen Bruch mit kleinerem Nenner \(r < q \) darstellen. Dies ist ein Widerspruch zur Annahme, dass \(\frac{p}{q}\) vollständig gekürzt ist. D.h. es können nicht weniger als \(q\) Strahlen entstehen.
Insgesamt haben wir damit begründet, warum es genau \(q\) Strahlen gibt.
Hinweis: Um die Spiralen erahnen zu können, sollten es mehr als \(3\cdot q\) Blätter sein.
Beispiele
In der obigen Aufgabe 3 haben wir gesehen, dass man bei einem Kreisteils der Form \(\omega=\frac{7}{30}\) oder \(\omega=\frac{11}{30}\) nicht nur 30 Strahlen, sondern jeweils auch eine gewisse Anzahl von q < 30 Spiralen erkennen kann. Aus Eigenschaft 2 folgt dann, dass es Brüche der Form $$ \frac{p}{q}\approx \frac{7}{30} \mbox{ bzw. } \frac{p}{q}\approx \frac{11}{30} $$ geben muss.Bemerkung
Es gilt natürlich auch $$\frac{7}{30} = 0,2\bar{3}\approx 0,23 = \frac{23}{100},$$ d.h. nach Eigenschaft 2 würde man auch 100 Spiralen erkennen, jedoch benötigt man dafür mindestens \(3\cdot 100 = 300\) Blätter, um diese erahnen zu können.
Es gilt natürlich auch hier $$\frac{11}{30} = 0,3\bar{6}\approx 0,37 = \frac{37}{100},$$ d.h. nach Eigenschaft 2 würde man auch 100 Spiralen erkennen, jedoch benötigt man dafür auch mindestens \(3\cdot 100 = 300\) Blätter, um diese erahnen zu können.
- Mit welchem Divergenzwinkel bzw. Kreisteil \(\omega\) wachsen die Pflanzen überhaupt?
- Wie findet man Brüche mit kleinen Nennern in der Umgebung einer Zahl bzw. in der Umgebung des Kreisteils?
Literatur
[Hop] Morphologie, Anatomie und Systematik der Höheren Pflanzen J.R. Hoppe, Systematische Botanik und Ökologie, Universität Ulm